Ansprache bei der Übergabe der Abiturzeugnisse (30.06.1956)
Erst mal Ruhe! Sieh dir doch all die Flaschen erst mal kurz an. Immer lächeln!
Ins Publikum blicken! Wenn's nicht geht, grinsen! Hem hem
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern und Freunde!, verehrte Anwesende!
Pause! laut! deutlich! langsam!
Heute sind wir nun zum letzten mal hier versammelt. Vier Jahre Oberschule liegen hinter uns. Eine lange Zeit, in der wir lernten und arbeiteten, aber auch die Freude nicht zu kurz kommen ließen.
Manchem von uns ist etwas wehmütig zumute bei dem Gedanken, nie wieder brav die Schulbänke zu drücken, nie wieder das schlechte Gewissen zu haben, auf den Unterricht nicht vorbereitet zu sein. Aber wir sind nicht übermäßig traurig.
Pause! laut! deutlich! langsam!
Denn vor uns liegt ja das wirkliche Leben, das kennenzulernen wir schon lange träumen. Vor uns liegt eine Zukunft, wie sie noch nie in der Geschichte vor der deutschen Jugend lag. Alle Wege liegen offen vor uns. Jeder von uns wird den Beruf ergreifen können, zu dem Neigung und Fähigkeiten ihn bestimmt haben.
Pause! lächeln! laut! deutlich! langsam!
Wir danken unserem Staat, unserer Regierung, die uns die Möglichkeit bot, die Oberschule zu besuchen, die uns auch weiterhin
unterstützen wird.
An dieser Stelle danken wir auch unserer FDJ-Organisation, die uns nach harter Schularbeit ein frohes Jugendleben bot.
Pause! ins Publikum blicken! deutlich! langsam!
Liebe Eltern!
Heute zu unserem Ehrentag, an dem wir das Zeugnis über eine vierjährige Tätigkeit erhalten sollen, möchten
wir die Gelegenheit ergreifen, Ihnen Dank zu sagen dafür, daß Sie uns den Besuch der Oberschule ermöglichten.
Pause! ins Publikum blicken! langsam! langsam!
Wir wissen, daß es Ihnen nicht immer leicht gefallen ist, für unseren Unterhalt zu sorgen. Aber auch für uns war es nicht immer ein angenehmes Gefühl, Ihnen zur Last zu fallen, während Gleichaltrige schon auf eigenen Füßen standen, ja ihre Eltern unterstützten.
Pause! ins Publikum blicken! lächeln!
Unser Dank an Sie, verehrte Lehrerinnen und Lehrer, ist besonders groß. Wir danken Ihnen für all die Mühe, die sie sich gaben, unseren Wissensschatz zu vertiefen, uns zu selbständig denkenden, verantwortungsbewußten Menschen zu erziehen, die die
Aufgaben, die ihnen die Zukunft stellen wird, meistern werden.
Pause! ins Publikum blicken! lächeln!
Unsere Dankesschuld ist mit Worten nicht abzutragen. Aber wenn Sie in einigen Jahren hören, daß aus uns Menschen geworden sind, die in ihrem Beruf, in ihrer Stellung etwas leisten, so dürfen Sie mit Recht stolz darauf sein, uns sie Grundlagen für unsere Erfolge gegeben zu haben. Und ich denke, das soll unser schönster Dank sein!
Pause! ins Publikum blicken! lächeln!
Anmerkungen
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE:
Iphigenie auf Tauris.
Zweiter Aufzug. Erster Auftritt
OREST. Ich hör' Ulyssen reden.
PYLADES. Spotte nicht.
Ein jeglicher muß seinen Helden wählen,
Dem er die Wege zum Olymp hinauf
Sich nacharbeitet. Laß es mich gestehn:
Mir scheinet List und Klugheit nicht den Mann
Zu schänden, der sich kühnen Taten weiht.
OREST. Ich schätze den, der tapfer ist und grad.
H. HEINE:
Enfant Perdu
[In: Romanzero]
Verlorner Posten in dem Freiheitskriege,
Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.
Ich kämpfe ohne Hoffnung, daß ich siege,
Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.
Ich wachte Tag und Nacht - Ich konnt nicht schlafen,
Wie in dem Lagerzelt der Freunde Schar -
(Auch hielt das laute Schnarchen dieser Braven
Mich wach, wenn ich ein bißchen schlummrig war).
In jenen Nächten hat Langweil' ergriffen
Mich oft, auch Furcht - (nur Narren fürchten nichts) -
Sie zu verscheuchen, hab ich dann gepfiffen
Die frechen Reime eines Spottgedichts
Ja, wachsam stand ich, das Gewehr im Arme,
Und nahte irgendein verdächt'ger Gauch,
So schoß ich gut und jagt ihm eine warme,
Brühwarme Kugel in den schnöden Bauch.
Mitunter freilich mocht es sich ereignen.
Daß solch ein schlechter Gauch gleichfalls sehr gut
Zu schießen wußte - ach, ich kann's nicht leugnen -
Die Wunden klaffen - es verströmt mein Blut.
Ein Posten ist vakant! - Die Wunden klaffen -
Der eine fällt, die andern rücken nach -
Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen - nur mein Herze brach
"... dennĀ«, pflegte er zu sagen, keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt!" GOTTFRIED KELLER: Das Fähnlein der sieben Aufrechten. Züricher Novellen. Band 2
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