Ernst Herbsts
unveröffentlichte Leserbriefe und erfolglose Appelle


Ansichten zur Allgemeinbildung

Am Wochenende 01./02.08.1998 erschien im "Neuen Deutschland" ein Beitrag von Prof. Gerhart Neuner, früher Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR: Ressource in Schieflage. Ich weiß nicht mehr, ob der folgende Text zu den angebotenen, aber nicht veröffentlichten Leserbriefen gehört oder ob er erst gar nicht abgeschickt wurde. Mir scheint, auch nach fast einem Jahrzehnt hat sich am Problem nichts geändert.
Der Aufsatz von Prof. Neuner Allgemeinbildung - unzeitgemäß? (Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät. Band 31(1999) Heft 4) konnte damals nicht berücksichtigt und soll uach heute nicht diskutiert werden.
E. Herbst. 01.10.2007


was ist und was soll denn eigentlich Allgemeinbildung?

Der Begriff wird hier wie andernorts unbedacht ("unreflektiert" spricht der gebüldete Bundesbürger) verwendet, und der Leser darf vermuten, dass Allgemeinbildung für alles steht, was nicht berufliche Bildung ist.
Oder was nicht Spezialbildung ist? Dann gehörten die Wahlfächer an den Gymnasien nicht mehr zur Allgemeinbildung.
Oder was von der Allgemeinheit - aus Steuergeldern - finanziert wird? Dann gehören aber berufliche und akademische Bildung weitgehend dazu.
Oder was im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht vom Staat als Bildung verordnet wird? Dann zählen jene Teile der beruflichen Bildung dazu, die an Auszubildende im schulpflichtigen Alter vermittelt werden.
Oder welcher Mindeststandard an Bildung jedem Bürger vermittelt wird? Dann wäre Allge-meinbildung durch die Anforderungen definiert, die an einen Hauptschulabschluss gestellt werden.
Oder mit welchem Bildungsniveau jede Generation von Schulabgängern auf dem Arbeits-markt in die Konkurrenz um die Lehrstellen und Arbeitsplätze eintritt? Dann wäre Allgemeinbildung die außerordentlich differenzierte Bildung vieler Individuen. Angemessenheit von Inhalt und Niveau wechselten von Jahr zu Jahr und wären an Arbeitsmarktdaten zu messen.

Verstehen wir unter Allgemeinbildung jene Bildungsprozesse und Bildungsgüter, die allen gemein sind, treten mindestens drei Probleme des bundesdeutschen Schulsystems ins Bewusstsein.

  • 1. Infolge des föderal (kleinstaatlich) fragmentierten und differenzierten Bildungssystems (dessen unterschiedliche Angebote und Anforderungen durch die Freiheit der Schulen bei der Schulbuchwahl noch verstärkt wird), gibt es keine Allgemeinbildung = allen gemeinsame Bildung der Bundesbürger/innen verschiedener Bundesländer.
  • 2. Infolge des fragmentierten dreigliedrigen Schulsystems könnte für eine Schülergeneration von Allgemeinbildung allenfalls auf der Ebene des Grundschulniveaus die Rede sein.
  • 3. Infolge der (unerlässlichen) Veränderungen der Lehr- und Lernprogramme der Schulen gibt es keine Allgemeinbildung für verschiedene Generationen in der Gesellschaft.
  • So erweist sich "Allgemeinbildung" in der Bundesrepublik als eine Fiktion - vergleichbar anderen Erfindungen, wie Rasse oder Nation, wenn auch nicht so gefährlich.

    Wird unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen dennoch der Versuch unternommen, einen Mindestbestand an Bildungsinhalten zu definieren, die einen Teil (meinetwegen: den Kern) der schulischen Bildung ausmachen, ergeben sich die eigentlich spannenden Fragen, um die es eine politische Auseinandersetzung geben könnte:
  • Hat staatliche Allgemeinbildung (als Bildungsangebot, Bildungsprozess und Bildungspflicht) zum Ziel, der Wirtschaft und der Staatsverwaltung ein wettbewerbsfähiges Potential hochwertiger Arbeitskraft bereitzustellen?
  • Die im Artikel von Prof. Neuner genannten Vergleiche in internationalen Studien zielen auf eben solche Fähigkeiten. Der Arbeitsmarkt benötigt sowohl hochgebildete als auch Menschen mit niedrigem Bildungsniveau. (Menschen mit Bildungsdefiziten stabilisieren zugleich das soziale System wegen der fatalen Eigenschaft menschlicher Arbeitskraft, an Menschen mit Bedürfnissen, Interessen und der Fähigkeit zur Organisation gebunden zu sein, die mit zunehmender Bildung potentiell wachsen.) Den Unterschieden in den Anforderungen an die Arbeitskräfte entsprächen dann sowohl ein gegliedertes Schulsystem mit der Konzentration staatlicher Mittel auf die "höherwertige" Arbeitskraft wie auch ein gewisses, aber nicht zu hohes Maß an "Überqualifikation" zur Sicherung des Konkurrenzdrucks auf dem Arbeitsmarkt.

  • Hat staatliche Allgemeinbildung (als Bildungsprozess) zum Ziel, Identifikation der Bürger/innen mit ihrem Nationalstaat als Legitimations- und Herrschaftsressource zu bilden? Die Konzentration der Bildungsprogramme auf die deutsche Sprache und Literatur, die deutsche Geschichte, das deutsche politische System lässt sich so erklären - und auch die Tenden-zen, den Horizont auf "Europa" zu erweitern, exakter: auf die Europäische Union mit ihrem Defizit an Unionsbürger/innen.
  • Hat Allgemeinbildung (als Bildungsprozess) zum Ziel, das Selbst- und Weltbewusstsein junger Menschen zu entwickeln, ihre Fähigkeiten zu Produktion und Genuss - auch am Rande der Warenwelt, ihre Kommunikationsfähigkeit - auch zur Wahrnehmung gemeinsamer Interessen mit anderen? Das wären möglicherweise Felder, auf denen eine gewissen Chancengleichheit in einer sozial zerklüfteten Welt noch möglich erscheint, weil es hier um auch um Chancen in der Welt des Geistes, in der Welt der Illusionen geht.
  • Wenn Prof. Neuner meint, das "traditionelle Übergewicht der Humaniora und die Unterbelichtung der Realien" beklagen zu müssen, misst er die Realität von Bildung offensichtlich am des Arbeitsmarktes. Er übernimmt den Maßstab möglicherweise unbedacht aus gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Chancen der Schulabsolventen in der Arbeitswelt und ihr persönliches Ansehen sehr viel mehr von ihrem Bildungsniveau abhingen als vom Niveau der Konten ihrer Eltern, und der Reichtum der Gesellschaft viel sträker bestimmt wurde durch die Qualität der menschlichen Arbeitskraft als durch die Aktien- und Währungskurse.
    Möglicherweise resultiert Prof. Neuners Unbehagen am Übergewicht der Humaniora aber auch aus seinen Vorbehalten gegenüber den Bildungsinhalten der entsprechenden Fächer. Die sozialen und politischen Einstellungen und Verhaltensweisen jener jungen Leute im Beitrittsgebiet, die seit fast einem Jahrzehnt humanistische Bildung im bundesdeutschen Schulsystem erfahren haben, machen solch Unbehagen verständlich - aber der Verzicht auf Humanoria zugunsten von Realien kann dieses Problem kaum lösen.


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